„Ich habe nur ein Leben, also will ich auch alles mal gemacht haben!“
Ich bin frei. Ich entscheide, wo ich lebe. Ich entscheide, was ich arbeite. Ich entscheide ob und welcher Religion ich angehöre. Ich entscheide, mit wem ich zusammenleben möchte. Ich entscheide, was ich mit meiner Zeit anfange. Ich habe nur ein Leben. Was ich damit mache, ist meine Sache. Ich möchte Reisen. Ich möchte entlegene Plätze besuchen. Ich will auch mal im Grand Canyon stehen. Ich will auch mal auf den Eiffelturm. Einmal Fallschirmspringen. Einmal einen Löwen in freier Wildbahn sehen. Ich entscheide, wann ich mir eine Pizza backe oder ob und wann ich sie mir bestelle. Ich. Ich. Ich. Alles kann, alles muss!
Es ist eine Schlussfolgerung, dass ich, da ich frei bin, mit dem eigenen Leben alles machen darf, was ich will. Es wird dort eingeschränkt, wo meine Wünsche die Freiheit eines anderen beeinträchtigen. Letzteres ist Konsens und eine schöne Definition für die Grenzen der eigenen Freiheit.
In der freien Welt, in den freien Staaten, gibt es die entsprechenden Rechtsordnungen, die mir das auch gewähren und dazu noch die nötigen staatlichen Einrichtungen und Behörden, wie z.B. die Polizei, die sicherstellen, dass ich meine Rechte auch ausleben kann.
Die Gesetze und Verordnungen geben den Rahmen vor, sie regeln das Zusammenleben und schützen meine freiheitlichen Rechte. Gesetze müssen gerecht sein und dürfen niemanden benachteiligen. Je nach Belang ist dies oft nicht einfach umzusetzen. Je kleinteiliger ein Sachverhalt ist, umso ausführlicher und detaillierter sind die Gesetze, die den Sachverhalt regeln. Jeder kleinste Sachverhalt und Sonderfall müssen geregelt werden. Alles muss abgedeckt werden. Die Bürger verlassen sich auf das Gesetz und versichern noch die restlichen „Problemzonen“: Lebensversicherung, Unfallversicherung, Arbeitsunfähigkeitsversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Autoversicherung. Die gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen leben es vor, die Bürger legen nach. Die Erwartungshaltung ist, ein Vollkasko-Leben führen zu können. Und wenn alles versichert ist und ich mich an alle Regeln halte, dann kann mir nix passieren. Immer blinder verlassen sich die Menschen darauf, so kommt es mir vor. Blind. Gnadenlos. Hirnlos.
Regeln haben erstmal keine Grauzonen aber in der Realität angewendet, sind sie eben manchmal nicht 100% eindeutig. Beispielsweise im Straßenverkehr: Da können leicht Situationen entstehen, in denen aufgrund des Timings, der Geschwindigkeiten der Verkehrsteilnehmer und vor allem durch das Unvorhergesehene, Situationen entstehen können, in denen Schlimmeres nur durch Umsicht und Mitdenken und Vorausschauen verhindert werden kann.
Neulich bei mir um die Ecke:
Ein Radfahrer auf einem Radweg. Der Radweg ist lediglich symbolisch durch einen weißen Strich vom Gehweg abgetrennt. Dazu noch eine Einmündung eines Fußweges, der zu einer Grundschule führt. Der Radfahrer mit hoher Geschwindigkeit, dank E-Motor und Gefälle, 20 kg schweres Fahrrad plus Gewicht des Fahrers, das ganze bei 20 km/h. Morgens, Rush-Hour, viele Kinder, viele Eltern, viele Radfahrer, viele Fußgänger. Es kommt, wie es kommen muss, der E-Bike Fahrer überholt andere Radfahrer, die eigentlich auch schon zu schnell fahren. Ein Kind kreuzt den Gehweg und anschließend den Radweg und es kommt zum Zusammenstoß. Der E-Bike Fahrer: „Ich war doch auf dem Radweg. Ich darf da so schnell fahren. Und außerdem halte ich mich sowieso immer an alle Regeln und trage einen Fahrradhelm“.
Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich: Auch auf dem Radweg ist Mitdenken und Umsicht gefordert. Wenn die Situation so unübersichtlich ist, kann ich mich nicht blind auf mein Recht berufen, grundsätzlich so schnell fahren zu dürfen. Und das Halten an Regeln ist sowieso selbstverständlich und was bitte, hat der Fahrradhelm damit zu tun, du +*#*#!
Das Gesetz schreibt „angepasste Geschwindigkeit“ vor. Und abgesehen davon, entlässt mich keine Regel und kein Gesetz aus der Pflicht, umsichtig zu fahren. Aber da sind wir wieder an dem Punkt: Gesetze haben ihren Auslegungsrahmen. Mehr Regeln und Gesetze werden nicht helfen und können Rücksichtnehmen und vor allem Mitdenken nicht ersetzen. Im Gegenteil: je mehr Regeln das Handeln bestimmen, umso mehr scheint der Eindruck erweckt zu werden, dass alles Denken bereits abgenommen wurde. Es kommt zur Erweiterung des „ich darf alles“ hin zu einem „ich darf alles, solange ich mich an die Regeln halte und wenn dann etwas schief geht, dann sind die Regeln nicht gut, nicht richtig oder nicht vollständig“. Es wird die eigene Verantwortung abgegeben und an die Regelschaffenden abgeschoben. Eine Selbstentmündigung als Rechtfertigung für Fehlverhalten.
Neue EU-Regeln für PKW-Neufahrzeuge erinnern mich auch wieder daran: Es sollen diverse Assistenz-Systeme Pflicht werden. Oh mein Gott. Automatische Brems-Assistenten z.B. die aufgrund von Verkehrsschildern auch schonmal übertrieben stark einbremsen und dadurch hinterherfahrende Verkehrsteilnehmer überraschen und verunsichern. Ich will gar nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn ein Brems-Assistent in die Eisen geht und die Straße aber leider etwas glatt oder rutschig ist und der Fahrer eigentlich ganz absichtlich lediglich vom Gas gegangen war, um das Fahrzeug weiter kontrollieren zu können. Oder unerfahrene Fahrer, die auf den Brems-Assistent blind vertrauen und mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sind, in der Annahme, jener Helfer wird schon rechtzeitig das Fahrzeug abbremsen. Das ist kein Fortschritt. Das sind immer teurere und schwerere Fahrzeuge, die daher ökonomisch und ökologisch keinen Sinn machen.
Das Muster wiederholt sich wieder und wieder: Verantwortung wird abgegeben, förmlich aufgegeben. „Ich halte mich an die Regeln, mehr nicht. Ende der Durchsage. Wenn es dann nicht mehr funktioniert, ist es nicht mein Problem“. Das ist so einfach, so bequem, so rücksichtslos, so ignorant, so arrogant, so asozial.
Und was, um alles in der Welt, hat dies nun mit „Agile Minds“ zu tun? Schauen wir uns nochmal den Gedankengang an: Viele Regeln führen zur Annahme, dass schon alles durchdacht wurde. Der einzelne schaltet sein Gehirn ab und verlässt sich blind und nur noch auf die Regeln.
Wie wirken also nach dieser Theorie wohl viele Regeln auf die Mitglieder eines Teams und deren Softwareentwicklungsprozess ein? Führen sie zu mehr Mitdenken und Verantwortungsübernahme? Zu echtem Miteinander und Kollaboration? Ich denke nicht. Leider ganz im Gegenteil. Moderne agile Vorgehensmodelle und Frameworks wie Scrum sind eben genau das: Frameworks! Keine starren und überbordenden Regelwerke. Im Scrum Guide steht nicht für jede Eventualität und jeden organisatorischen Edge-Case eine Anweisung, wie man sich zu verhalten hat. Es ist ein Rahmen, der die Eigenverantwortung und die Selbstorganisation des Teams in den Mittelpunkt stellt und diese fördern soll. Das Team muss mitdenken. Einer für alle und alle für einen. „Ich habe den Code doch eingecheckt und daher kann ich Feierabend machen“ gibt es in dieser Welt nicht mehr. Das naive Denken, „ich halte mich an die Regeln, also wird alles gut“, gehört der Vergangenheit an. In diesem Sinne wird es auch höchste Zeit, dass ein agiles Mindset in unserer Gesellschaft in alle Köpfe einzieht.
Das selbe Thema, der selbe Anfang, aber mit anderem Ende: eine politische und gesellschaftliche Einordnung findet ihr in meinem Blog "Neulich im Café". https://neulichimcafe.substack.com/p/jeder-alles-jederzeit